Zum Auftakt des deutsch-niederländischen Festivals ‚Für Freiheit – Voor Vrijheid 1945-2015‘, das am 27. August in Münster stattfand (siehe Beiträge unten), traf Prof. Dr. Friso Wielenga die niederländische Schriftstellerin Tessa de Loo zu einem Podiumsgespräch im Haus der Niederlande in Münster. Sie las am Vorabend aus ihrem Roman De tweeling – die Zwillinge und verdeutlichte, den Zwist zwischen Selbstverständnis und dem wirklichen Verstehen. Ein Problem, das zurzeit sehr aktuell erscheint.
In der bis auf den letzten Platz gefüllten Bibliothek des Krameramtshauses zu Münster sprach Prof. Dr. Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien, am Abend des 26. August die Begrüßungsworte, gab einen kurzen Überblick über den Ablauf der Veranstaltung und führte die Gäste in Tessa de Loos wohl bekanntestes literarisches Werk ein, das an diesem Abend im Mittelpunkt stehen sollte: De tweeling (dt.: Die Zwillinge). Es war bereits das zweite Mal, dass die nunmehr seit 22 Jahren in Portugal lebende gebürtige Niederländerin zu Gast in Münster war.
In De Loos Roman, der 1993 in den Niederlanden und zwei Jahre später in deutscher Übersetzung erschien (siehe dazu: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9221902.html), geht es um die beiden Zwillingsschwestern Anna und Lotte, die 1922 im Alter von 6 Jahren nach dem Tod ihrer Eltern unfreiwillig und grausam voneinander getrennt werden. Anna bleibt in Deutschland und wächst in einfachen Verhältnissen in katholisch-bäuerlicher Umgebung bei ihrem Großvater auf, während Lotte bei einem Onkel mit sozialistischen Sympathien, dessen Familie während des Zweiten Weltkrieges Juden versteckt, in der gebildeten Oberschicht in den Niederlanden aufwächst. Bei einer Kur in Spa treffen sich die beiden Schwestern 1990 zufällig wieder und berichten über ihre grundverschiedenen Lebensgeschichten von 1922 bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Lotte, die nur sehr ungern an ihre deutsche Herkunft erinnert wird, repräsentiert im Roman die Perspektive einer ‚Niederländerin‘, die durchweg misstrauisch gegenüber ‚den Deutschen‘ ist und deren Beziehung zu ‚den Deutschen‘ – und somit auch zu Anna – aufgrund ihrer persönlichen Erlebnisse nachhaltig gestört ist. Ressentiments und Unverständnis herrschen vor. Anders ist es bei der deutschen Anna. Sie repräsentiert die Perspektive eines zutiefst verzweifelten, einfachen deutschen Volkes, das durch den Krieg genauso gelitten hat wie die vermeintlichen ‚Opfer‘ der Nazi-Verbrechen. Von bisweilen dramatischen Lebensumständen weiß sie ihrer Schwester zu berichten und hofft so, bei ihr auf Verständnis zu stoßen.
Die Verwendung zweier konträrer Blickwinkel, die sich wie ein roter Faden durch den Roman ziehen, beugt immer wieder einem ‚Aus-einer-Perspektive-heraus-Argumentieren‘ und einer starren Schwarz-Weiß-Sicht auf die Kriegsgeschehnisse von ’39 bis ’45 vor. Sie fesselt den Leser, bringt ihn nicht nur zum Nachdenken, sondern so manches Mal auch zum Umdenken.
Versuche von Reflexion
Dadurch, dass der Leser eine größere Sympathie für die deutsche Anna entwickelt, werde einem oftmals „arroganten niederländischen Volk“ der Spiegel vorgehalten, so Professor Wielenga mit der sich daran anschließenden Frage, ob De Loo sich im Buch nicht zu sehr mit der deutschen Seite identifiziert habe. Denn diesen ‚Vorwurf‘ hat man ihr in den unterschiedlichsten Kritiken immer wieder gemacht. Selbst als Landesverräterin hat man sie bezeichnet. Dabei sei De tweeling „gar kein populistisches Buch“, so die niederländische Schriftstellerin, „es wurde aber populär.“ Vom Publikum eher positiv aufgenommen, von den Rezensenten eher negativ, sei es wohl ein Buch, das zweifelsohne „starke Gefühle hervorruft“ und polarisiert, so De Loos Annahme. Deshalb auch das geteilte Echo in der Presse.
Dem Leser von De tweeling wird eine andere Sicht auf die Dinge vermittelt – eine zusätzliche Sicht. Das Buch versucht die gängigen Denkschablonen, Ressentiments, Schuldzuweisungen, Voreingenommenheiten und Verallgemeinerungen, ein blindes Mitverantwortlich-Machen auf sowohl deutscher als auch auf niederländischer Seite aufzudecken und bedient sich dabei des äußerst gelungenen Motivs der durch den Krieg ‚entzweiten‘ Zwillinge. Sie wurden getrennt, um am Ende – wenn man so will – wieder zusammenzufinden.
Nachdem De tweeling bereits in mehr als 25 Sprachen übersetzt worden ist und es sich somit nach dem Tagebuch der Anne Frank um das zweitbekannteste niederländische Buch über die Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges handelt, geht dessen Stellenwert weit über die deutsch-niederländischen Beziehungen hinaus.
Stimmungsmache und Gehirnwäsche
Zur Entstehungsgeschichte berichtete De Loo während des Abends, sie habe es sich als Kind nicht vorstellen können, dass ein gesamtes Volk als „teuflisches Volk“, als Volk mit einer „Kadaverdisziplin“ geboren werde. „Wie kann es sein, dass es so ein Volk gibt?“ fragte sie sich. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Leute ‚anders‘ geboren wurden, wie sie es aufgrund zahlreicher (schwarz-weiß gefärbter) Geschichten, die ihr in ihrer Jugend erzählt wurden, und der allgemein anti-deutschen Stimmung nach dem Krieg zunächst annehmen musste. So begab sie sich auf die Suche nach dem Deutschland ohne das „schwarze Imago“ und versuchte ein ‚Verständnis‘ für die Propagandamaschinerie der 30er Jahre zu entwickeln. ‚Verständnis‘ für die Deutschen in der Nazizeit und ‚Verständnis‘ dafür, wie die Leute damals „gehirnspült“ wurden (nl.: hersenspoeling). Selbstverständlich habe sie – als geborene Niederländerin – aber auch ein Solidaritätsgefühl hinsichtlich der Geschichte der Holländer. Der sich daraus ergebende Konflikt („Was hätte ich in den 30er Jahren gemacht?“) bildete eines ihrer wichtigsten Motive zum Schreiben des Romans. So hatte sie die Idee der Zwillinge, von denen einer die deutsche und die andere die niederländische Seite repräsentiert, sowie die Idee einer ‚Wiederholung‘ des Krieges zwischen beiden Ländern „boven de taartjes“, sozusagen als ‚Wortgefecht en miniature‘, das über Törtchen und Gebäck am Tisch ausgetragen wird.
Vom Verständnis zum Selbstverständnis
De Loo geht es darum, Verständnis (hier: für die Deutschen in der Nazizeit) zu entwickeln und ein blindes Aufrechterhalten bloßer Schuldzuweisungen zu bekämpfen. Der Mensch sei abhängig von der Zeit, in der er lebe und auch vom Milieu, in dem er lebe, so ihre Ansicht. Niemand könne heute sagen, wie er damals gehandelt hätte. Es geht ihr aber auch um Selbstverständnis (hier: des niederländischen Volkes), an welchem im Roman ja kräftig gerüttelt wird. So entwickelt die komplett ‚verniederländischte‘ Lotte, die während des Krieges jüdischen Untergetauchten hilft, zumindest ansatzweise Verständnis für die andere Seite, für ihre deutsche Schwester. Anfänglich ist sie noch sehr misstrauisch Anna gegenüber, wird aber durch Annas ergreifende Geschichten immer wieder mit dem Leid einfacher Deutscher in Kriegszeiten konfrontiert. Und dieses Leid gab es ja auch!
Ein weiteres Motiv für das Schreiben des Romans seien insbesondere auch diese „kleinen bürgerlichen Geschichten“ gewesen, die De Loo selbst und somit auch ihren Roman geprägt haben, und die ja irgendwann auch „verschwinden, wenn die Leute nicht mehr da sind.“
Lotte kann Anna letztlich nicht vergeben, aber zumindest Verständnis hat sie bekommen.
Dazu De Loo: „Vergeben ist auch etwas anderes, als anfangen zu verzeihen.“
Gesponsert wurde die Veranstaltung vom Nationaal Comité 4 en 5 mei und vom vfonds (Nationaal Fonds voor Vrede, Vrijheid en Veteranenzorg).
Weitere Infos zur Veranstaltung gibt es unter http://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/aktuelles/archiv/2015/august/0826freiheit.html
Text: Linus Weinitschke, Fotos: Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Zentrum für Niederlande-Studien